Ich stehe vor dem Spiegel und schminke die Lippen. Mein Spiegelbild blinzelt mir freundlich zu und ich erstarre.
Mein Gesicht nähert sich dem Glas, die Augen weit aufgerissen. Wieder blinzelt es und ungläubig trete ich einen Schritt zurück.
Spiegel-Mina legt ihre Handfläche auf das Glas. Zögerlich tue ich dasselbe. Im nächsten Moment sehe ich das Zimmer vom Spiegel aus.
Die Andere hebt ihre Hand, lacht kurz höhnisch, geht und lässt mich hilflos im Spiegel zurück.
Als sie das Licht löscht und die Tür des Badezimmer schließt, verschwinde auch ich.
Fast.
Keine Augen, Ohren, Finger, Beine, Gesicht, nichts. Nur mein Atmen in der Dunkelheit. Hektisch erst, dann wieder ruhiger. Wie kann das sein? Ohne Nase, Mund und Brust, die sich hebt und senkt? Doch es ist da. Ich bin noch da. Bin ich?
Weinen, schreien, schlagen. Nichts geht. Wie lange, bis ich vergesse, was das ist?
Ich zähle meine Atemzüge. Etwa bei Tausend vergesse ich die Zahl, beginne von vorne, komme etwa doppelt so weit, verliere mich wieder, gebe auf.
Das alles kann nur ein Traum sein. Ein Alptraum. Ich muss nur erwachen. Wieder zähle ich. Immer wieder. Zwischendrin male ich mir aus, wie ich aufstehe, aus dem Spiegel springe, zurück ins Leben.
Als ich mich frage, ob ich vielleicht einfach tot bin, geht das Licht an. Ich sehe die Andere vor den Spiegel treten, den Wasserhahn aufdrehen, die Hände und das Gesicht waschen. Ich spüre alles, mein ganzer Körper ist da, bewegt sich wie ihrer.
Sie, ich, wir nehmen die Zahnbürste und beginnen zu putzen, den Blick unverwandt in den Spiegel gerichet.
Das bin ich, die da die Zähne putzt, aber das bin nicht die entscheidet, in welche Richtung die Bürste geht. Ich bin eine Puppe, die von der Anderen bewegt wird. Als sie fertig ist, dreht sie sich um, auch ich schaue in die andere Richtung, zur Tür. Plötzlich kommt sie zurück. Wir schauen uns in die Augen. Sie weiß, ich bin hier. “Gute Nacht, Mina” sagen wir beide, bevor sie den Raum verlässt, die Tür schließt, das Licht löscht und mich zurücklässt.
Mich?
Diesen winzigen Teil von mir, Atem und Gedanken in der Leere.
Ich schlafe nicht. Keine Lider zum Schließen, keinen Leib zum Niederlegen. Inzwischen akzeptiere ich, es ist kein Traum, dies ist die absurde Wirklichkeit. Die Nacht ist endlos.
Ich bin dem Wahnsinn nahe, als endlich das Licht angeht und die andere ins Badezimmer kommt. Wieder spüre ich mich, oder eigentlich: sie und was sie tut. Das Herunterstreifen des Höchens, das Pinkeln, die Dusche, Handtuch, sogar den kurzen Schmerz als sie vor dem Spiegel kurz mit dem Kajal den Augapfel touchiert. Meine Hilflosigkeit ärgert mich, genieße es allerdings, nach den Stunden der Körperlosigkeit überhaupt etwas zu spüren. Diesmal ignoriert sie mich komplett, bevor sie mich wieder allein in der Dunkelheit zurücklässt.
Was weiß das Biest, so nenne ich die Andere inzwischen, eigentlich über mich? Mindestens meinen Namen, aber kennt sie auch meine Arbeit? Was für ein Durcheinander wird sie mir hinterlassen haben, wenn ich hier mal rauskomme? Was ist, wenn man mich feuert, weil sie Unsinn anstellt?
Eine Sache macht mir Hoffnung: Wenn sie es geschafft hat, meinen Platz einzunehmen, dann kann ich das auch mit ihr machen. Irgendwie. Ich muss nur herausfinden, wie sie es getan hat. Vielleicht muss ich nur warten, bis sie einmal den Spiegel berührt? Mindestens sauber machen muss sie ihn ja irgendwann.
Die Tage vergehen qualvoll langsam. Kurz unterbrochen von den Momenten, in denen sie da ist, verbringe ich sie im körperlosen Nichts. Wenn dieser Zustand das Nirwana ist, ist es Scheiße. Inzwischen freue ich mich fast auf die Momente in denen das Biest mich besucht.
Ich sehe sie das Badezimmer mit einem Eimer und Putzmitteln betreten. Ist das der Tag meiner Befreiung? Sie beginnt mit Dusche und Toilette. Sie ist gründlich und ich fühle Schweißperlen auf der Stirn. Die wischt sie ab, bevor sie eine Flasche Glasreiniger und einen Lappen auf das Waschbecken stellt. Die Spannung ist kaum zu ertragen. Sie schaut mir in die Augen, lange und ohne den Augenkontakt abzubrechen nimmt sie ein paar Gummihandschuhe zur Hand, streift sie langsam über und grinst höhnisch. Das Biest! Sie weiß, was sie tut. Ihre, meine Haut kommt nicht gegen das Glas, als sie es poliert. Ich will platzen vor Wut, stattdessen höre ich uns leise ein Lied summen. “Fuck you!” von Lily Allen. “Fuck you, bitch!”, denke ich. Völlig machtlos sehe ich sie gehen, als sie fertig ist.
Wieder allein bin ich am Boden zerstört, verzweifelt und hoffnungslos. Die kurzen Unterbrechungen meiner körperlosen Dunkelheit reißen mich kaum aus dem permanenten Dämmerzustand.
Wie lange bin ich hier jetzt gefangen? Eine Woche, zwei, drei? Merken meine Freunde oder mein Bruder nicht, dass das nicht ich bin, wenn sie das Biest treffen? Sie ist so eindeutig bösartig. Kann sie wirklich allen vorspielen, ich zu sein?
Das Biest kommt hereingestolpert und pflanzt sich aufs Klo. Auch ich bin plötzlich benommen. Sie hat getrunken, viel. Mir ist schwindlig, aber da ist noch ein anderes Gefühl im Körper. Das kenne ich. Sie hat gefickt. Sie hat mich gefickt. Eine kalte Wut steigt in mir auf. Mit wem, zum Teufel? Ohne Zähneputzen, Abschminken und Haare-Kämmen torkelt sie aus dem Bad. Schlampe!
Sie löscht das Licht, schließt aber nicht die Tür, als sie geht. Ein wenig Licht fällt aus dem Flur in den Raum. Ich verschwinde nicht und auf einmal kann ich mich selbst bewegen. Kann ich jetzt hier weg? Ich drehe mich um und gehe im Halbdunklen zur Tür, die etwa eine Handbreit offensteht, greife die Klinke und ziehe. Nichts bewegt sich. Das Metall ist kalt und hart, aber egal, wie ich ziehe, die Tür bewegt sich keinen Millimeter. Mir kommen die Tränen. Ich gehe zurück zum Spiegel und blicke hinein. Da ist nichts, nur das schwer zu erkennende Spiegelbild des dunklen Raumes. Ich blicke an mir hinunter. Da bin ich. Ich trage mein blaues Kleid, das sie vorher anhatte. Ich fühle den weichen Stoff, den Bund des Höschens, alles fühlt sich normal an, auch meine bloßen Füße auf den Fliesen. Als ich aber nach dem Handtuch, das neben dem Waschbecken hängt, greife, ist es steif wie ein Brett und unbeweglich. Alles, was ich nicht am Leib trage, ist wie eingefroren: Die Zahnbürste im Becher, der Kamm, sogar das eine lose Haar auf dem Waschbeckenrand, das ich gerade so erkennen kann.
Wieder steigen Wut und Ärger in mir auf. Ich schreie und schlage die Hand mit voller Wucht gegen den Seifenspender. Der Schmerz zuckt hoch bis zum Ellenbogen. Ich krümme mich zusammen, während das dumme Ding völlig ungerührt dasteht. Ich setze mich auf den Boden, starre auf den Türspalt, der mich von der Welt trennt, von einer Welt, die nicht die meine ist, eine Spiegelwelt, in der jede Tür, jedes geschlossene Fenster ein unüberwindbares Hindernis ist. Was sollte ich in so einer Welt tun? Mich auf die Straße stellen und mich von einem Lastwagen überfahren lassen? Kann Sterben schlimmer sein als das hier? Kann ich hier überhaupt sterben? Meine Hand schmerzt noch und ist ein wenig rot an der Stelle, wo ich sie gegen den Seifenspender geschlagen habe. Also kann ich mich wohl verletzen und dann wohl auch schlimm, oder? Will ich wirklich sterben? Eigentlich nicht. Ganz die Hoffnung will ich nicht aufgeben. Irgendetwas wird mir noch einfallen.
Während ich so vor mich hingrübele, höre ich Schritte auf dem Flur, das Licht geht an und die Andere tritt ein und wieder werde ich zur Puppe, verdammt dazu, alles zu tun, was sie tut, doch die Dusche, die sie nimmt, tut auch mir gut. Sie ist wieder nüchtern, hat scheinbar keinen Kater. Mindestens etwas. Meine Wut und Verzweiflung beruhigen sich ein wenig, bis mich Spiegel-Mina wieder allein mit meinem Atem in der Dunkelheit zurücklässt.
In den nächsten Tagen fange ich an, einige Regeln der Spiegelwelt zu verstehen. Das Biest achtet immer darauf, die Tür sorgsam zu schließen damit kein Licht ins Bad fällt, aber in der halben Sekunde oder so, die sie außer Sicht ist und die Tür noch nicht zu ist, bin ich Herrin über meinen Körper, wenn auch nicht über die Dinge um mich herum.
Ein paar Tage später geschieht etwas: Die Tür öffnet sich und herein kommt nicht die Andere, sondern ein etwas dürrer Mann in Boxershorts. Ich kenne ihn. Das ist Jochen. Er ist ein paar Tage, bevor mich das Biest ausgetrickst hat, nebenan eingezogen. Wir haben uns kurz auf dem Flur unterhalten und er schien nett zu sein. Mit ihm scheint die Andere jetzt wohl zu vögeln, denn ich bin komplett nackt. Was soll’s? Ich muss ihn irgendwie auf mich aufmerksam machen. Ich winke im Spiegel, als er im Stehen in die Toilette pinkelt. Normalerweise würde mich das ärgern, jetzt ist es egal. Er sieht mich nicht, doch dann tritt er zum Waschbecken. Wenigstens wäscht er sich die Hände und schaut in den Spiegel, doch er sieht mich nicht. Verdammt!
Mir kommt eine Idee. Ich mache eine Faust und schlage fest gegen die Borsten der Zahnbürste, einmal und noch ein zweites Mal. Wie Nadeln haben mir die Borsten in die Haut gestochen. Ich blute etwas und ich schmiere Blut auf den Spiegel. Jochens Blick verändert sich. Er führt den Finger zu der Stelle mit dem Blutfleck und reibt daran. Der Fleck bleibt. Ich führe meine Hand zu der Stelle, doch auch als wir beide den Spiegel berühren, geschieht nichts. Schade! Lieber wäre ich er geworden, als weiter hier gefangen zu sein. Ich überlege hektisch. Die Wunde an meiner Hand blutet noch ein wenig. Ich schreibe “Hilfe” in Spiegelschrift auf das Glas. Das sieht er anscheinend, so belämmert, wie er guckt. “Ruf nicht Mina!” schreibe ich. Er nickt langsam. Ich muss ihm die Situation erklären und ihn dann dazu bringen, dass er das Biest holt und ihre Hand gegen den Spiegel drückt. So muss es sein.
Ich will weiterschreiben, merke aber, dass ich aufgehört habe zu bluten. Kurz atme ich ein und drücke meine Finger mit Kraft gegen die Borsten, bis wieder etwas Blut quillt. Als ich aufblicke, sehe ich ihn gehen. “Nein!” schreie ich. Nur Sekunden später kommt er mit dem Biest zurück. Die blickt kurz auf den Spiegel, zieht ihn aus dem Bad und macht wieder dunkel.
Das ist das Ende. Nach einer guten Weile, es kommt mir vor wie Tage, es sind aber wohl nur einige Stunden, kommen beide zurück. Jochen hat einen Schraubenzieher in der Hand und löst die zwei Schrauben, die den Spiegel halten. Behutsam nimmt er ihn von der Wand, während das Biest ihn beobachtet. Meine Welt schaukelt wie verrückt, als er ihn aus der Wohnung trägt. Sie gehen die Treppe hinauf zum Dachboden. In meinem Abteil stehen zwei große Vogelkäfige, die anscheinend brandneu sind. In einem steht ein Spiegel wie meiner. Meiner kommt in den anderen. Spiegel-Mina und Jochen umarmen sich kurz und lachen. Sie grinst und sagt zum Käfig gewandt: “Viel Spaß, ihr zwei”. Als sie die Tür zum Dachboden von außen zumachen, finde ich mich im Käfig eingequetscht. Im anderen ist wohl der echte Jochen, mit noch weniger Raum als ich. Ich höre ihn weinen und stimme ein.
Der Anfang ist die Mini-Geschichte “Kuckuck”, die ihr hier findet:
https://blog.minaspace.org/grusel-kurzgeschichten
Der ganz wunderbare Klaus Neubauer war so unglaublich freundlich, diese Geschichte in seinen Podcast-Blog aufzunehmen. Hier könnt ihr sie deshalb auch hören. (Danke Klaus!) Ich finde es lohnt sich sehr, aber nutzt auch die Gegegenheit, in die vielen anderen Geschichten in seinem Blog hineinzuhören!
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