Julio Cortázar
Ein Text aus dem Jahre 1956, aus dem Spanischen übersetzt von Mina 2024
Es gab eine Zeit, in der meine Gedanken unablässig um Axolotl kreisten. Ich ging in das Aquarium des Jardin des Plantes um sie zu sehen und betrachtete sie stundenlang, beobachtete ihre Ruhe und kaum sichtbaren Bewegungen. Jetzt bin ich ein Axolotl.
Der Zufall hatte mich an einem jener Frühlingsmorgen zu ihnen gebracht, an denen Paris nach dem langen Winterschlaf seine Federn spreizte wie ein Pfau. Ich kam den Boulevard Port Royal herab, bog in die St. Marcel-Straße und nahm dann L’Hôpital, sah das Grün inmitten des vielen Graus und erinnerte mich der Löwen. Ich hatte die Löwen und Panther immer gemocht aber das feuchte und dunkle Gebäude mit den Aquarien nie betreten. Ich lehnte mein Fahrrad an das Gitter und ging, einen flüchtigen Blick auf die Tulpenbeete werfend, in den botanischen Garten. Die Löwen waren hässlich und traurig und mein Panther schlief. Ich entschied mich für die Aquarien, wich einigen langweiligen Fischen aus, bis ich unerwartet auf die Axolotl traf. Bei ihnen blieb ich eine volle Stunde und verließ schließlich das Gebäude, völlig unfähig, an etwas anderes zu denken.
In der Saint-Geneviève-Bibilothek konsultierte ich das Lexikon und lernte, dass es sich bei den Axolotl um mit Außenkiemen ausgestattete Larvenartige, Molche aus der Gattung der Lurche, handelte. Dass sie aus Mexiko stammten, wusste ich bereits: wegen ihrer kleinen, rosafarbenen aztekenmäßig ausehenden Gesichter und von dem Schild über ihrem Aquarium
Ich las, man hätte in Afrika Exemplare gefunden, die in der Trockenzeit auf dem Land leben konnten und in der Regenzeit ihr Leben im Wasser fortsetzten und erfuhr, ihr spanischer Name sei “Ajolote”. Erwähnt wurde auch, dass sie essbar seien und dass man einst (heute angeblich nicht mehr) ihr Öl genutzt hatte, wie das der Kabeljauleber.
Darauf, spezielle Fachliteratur zu konsultieren, verzichtete ich, doch am folgenden Tag kehrte ich zum Jardin des Plantes zurück und von da an jeden Morgen, manchmal vor- und nachmittags. Der Aquariumswärter lächelte mich jedesmal wieder verdutzt an, wenn ich ihm die Eintrittskarte aushändigte. Ich stützte mich auf die Eisenstange, welche die Aquarien von den Besuchern trennte und beobachtete die Tiere. Ich fand daran nichts Ungewöhnliches, denn von Anfang an hatte ich begriffen, dass wir miteinander verbunden waren, dass uns etwas unendlich Verlorenes und Fernes verband.
An jenem ersten Morgen war es mir genug, vor der Scheibe innezuhalten, an der vereinzelte Luftblasen aufstiegen. Die Axolotl waren auf dem kargen und engen (nur ich kann wissen, wie karg und eng) Moos-bewachsenen Steinboden des Aquariums versammelt. Sie waren neun und die meisten von ihnen drückten die Gesichter gegen das Glas, um mit ihren goldenen Augen diejenigen anzuschauen, die sich näherten.
Verunsichert, beinahe peinlich berührt, fühlte es sich in einer gewissen Art unanständig an, mich diesen stillen und unbeweglichen, auf dem Grund des Aquariums kauernden, Wesen zu nähern. Um es genauer zu untersuchen, konzentrierte ich mich auf eines von ihnen, auf der rechten Seite, ein wenig abseits von den anderen. Ich sah einen kleinen Körper, rosig und etwas durchscheinend (es ließ mich an kleine chinesische Jade-Figuren denken), ähnlich einer Eidechse von fünfzehn Zentimetern Länge, mit einem Fischschwanz von außergewöhnlicher Zartheit, dem empfindlichsten Teil unserer Körper. Den Rücken entlang lief eine lange durchsichtige Flosse, die am Ende mit der Schwanzflosse verschmolz. Was mich jedoch am meisten in den Bann zog, waren die Beinchen, von graziler Feinheit, die in winzigen Fingern, mit minutiösen wie menschlichen Nägeln, endeten. Schließlich entdeckte ich die Augen in seinem Gesicht: zwei Körperöffnungen wie Stecknadelköpfe, ganz aus transparentem Gold und leblos, die aber hinausschauten und sich von meinem Blick durchdringen ließen, welcher sich im durchsichtigen Inneren zu verlieren schien.
Ein ganz schmaler Schatten umgab sie, schrieb sie in das rosige Fleisch, der rosafarbenen Fläche des annähernd dreieckigen Gesichtes mit krummen und unregelmäßigen Seiten, die ihm eine gwisse Ähnlichkeit mit einer verwitterten Steinfigur verliehen. Das Maul war durch die Dreiecksebene des Gesichts verdeckt, nur von der Seite konnte man seine beachtliche Größe erahnen. Von vorne gab es nur eine schmale Kerbe, die über den leblosen Stein kratzte. An den Seiten des Kopfes, wo die Ohren sein sollten, entwuchsen ihm drei rote korallenartige Zweiglein, ein pflanzlicher Auswuchs; die Kiemen, nehme ich an. Und dies war das einzige Lebendige an ihm: Alle zehn oder fünfzehn Sekunden versteiften sich die Zweiglein um dann wieder zu erschlaffen. Manchmal bewegte sich eines der Beinchen ein ganz wenig und ich sah die winzigen Finger auf dem Moos ruhen. Wir mögen es nicht, uns zu bewegen und das Aquarium ist so eng: Kaum, dass wir uns ein wenig fortbewegen stoßen wir mit dem Schwanz oder dem Kopf gegen einen anderen von uns. Es entsteht Streit, Kampf, Erschöpfung. Man spürt die Zeit weniger, wenn wir stillhalten.
Als ich die Axolotl das erste mal gesehen hatte, war es ihre Reglosigkeit gewesen, die mich dazu gebracht hatte, mich fasziniert zu ihnen herunterzubeugen. Irgendwie schien ich ihren geheimnisvollen Wunsch zu verstehen, sich mit Hilfe ihrer gleichgültigen Unbeweglichkeit aus Raum und Zeit davonzustehlen. Später wusste ich es besser: Die Kontraktion der Kiemen, das Betasten der Steine mit den Beinchen und das wiederholte Schwimmen (Einige von ihnen schwimmen, mittels einfacher Wellenbewegung des Körpers.) bewiesen mir, dass sie fähig waren der bleiernen Schläfrigkeit, in der sie Stunden verbrachten, zu entkommen. Besessen war ich von ihren Augen. Nebenan, in den übrigen Aquarien, zeigten mir verschiedene Fische ihre schiere Blödheit in ihren wunderschönen, den unseren so ähnlichen, Augen. Die Augen der Axolotl dagegen sprachen mir von der Präsenz eines anderen Lebens, einer anderen Art zu schauen. Mit dem Gesicht an die Scheibe gepresst (Manchmal räusperte sich der Wärter genervt) suchte ich, die winzigen Pupillen, jenen Eingang in die unendlich verlangsamte und entfernte Welt der rosigen Kreaturen, besser zu erkennen. Es brachte nichts, mit dem Finger an die Scheibe zu klopfen: Auch direkt vor ihren Gesichtern zeigten sie nicht einmal die geringste Reaktion. Die Augen aus Gold brannten weiter in ihrem süßen, schrecklichen Glanz, fuhren fort, mich aus einer unergründlichen Tiefe zu betrachten, welche mich schwindeln machte.
Trotzdem waren sie mir nahe. Das wusste ich im Vornherein, bevor ich ein Axolotl war. Ich wusste es an dem Tag, als ich mich ihnen das erste mal genähert hatte. Die menschenähnlichen Züge eines Affen enthüllen, im Gegensatz zur üblichen Meinung, die Distanz, die zwischen ihnen und uns liegt. Die völlige Abwesenheit jeder Ähnlichkeit zwischen den Axolotl und uns bewies mir die Wahrhaftigkeit meiner Erkenntnis, dass ich mich nicht auf falsche Analogien stützte. Nur die Händchen … Aber eine Eidechse hat auch solche Hände und ist uns in nichts ähnlich. Ich glaube, es war das Gesicht der Axolotl, jenes rosa Dreeck mit den goldfarbenen Augen. Dieses Gesicht sah, wusste und forderte. Das waren keine Tiere.
Es lag nahe, die Mythologie zu bemühen: Ich begann, die Axolotl als das Ergebnis einer Metamorphose, der es nicht gelungen war, eine verborgene Menschlichkeit auszulöschen, zu sehen; malte mir aus, sie besäßen Bewusstsein, wären Sklaven ihrer Körper, auf ewig zu Schweigen und verzweifelten Grübeleien verdammt. Ihr blinder Blick, jene winzige goldene Scheibe, ausdruckslos und doch zweifellos beseelt, drang in meinen Geist wie eine Botschaft: «Rette uns! Rette uns!». Ich ertappte mich dabei, wie ich ihnen tröstende Worte voller kindischer Hoffnung zuraunte.
Sie jedoch bleiben bewegungslos. Plötzlich versteiften sich die rötlichen Kiemenzweige. In diesem Augenblick fühlte ich etwas wie einen dumpfen Schmerz: Vielleicht sahen sie mich, spürten meine Versuche, in die Undurchdringlichkeit ihres Lebens einzudringen. Dies waren keine menschlichen Wesen, nie jedoch hatte ich je mit einem Tier eine so innige Verbundenheit gespürt. Die Axolotl erschienen mir wie stumme Zeugen eines Ereignisses, und manchmal wie furchtbare Richter. Angesichts ihrer schrecklichen Reinheit fühlte ich mich gemein und gewöhnlich. Sie waren Larven, doch «Larve» heißt auch «Maske». Was für ein Anblick wartete hinter diesen ausdruckslosen aztekischen Gesichtern und ihrer makellosen Grausamkeit auf seine Enthüllung?
Ich fürchtete sie. Hätte ich nicht die Nähe anderer Besucher und des Wärters gespürt, hätte ich kaum gewagt, allein bei ihnen zu verweilen. «Sie essen die ja mit den Augen» lachte mich der Wärter an, der mich wohl für etwas beschränkt hielt. Er bemerkte nicht, dass es jene waren, die mich langsam mit dem goldenen Kannibalismus ihrer Augen verschlangen. Außerhalb des Aquariums dachte ich an nichts anderes mehr, ganz als ob sie mich aus der Ferne kontrollierten. Schließlich kam ich jeden Tag, und in der Nacht malte ich mir ihre Unbeweglichkeit im Dunkeln aus, in der vielleicht die eine ihrer Hände die eines anderen berührte. Sahen sie auch im tiefen Dunkel, so dass ihr Tag kein Ende hatte? Die Augen der Axolotl haben keine Lider.
Jetzt weiß ich, dass es nichts Widernatürliches gab; dass es geschehen musste. Wenn ich mich morgens über das Aquarium beugte, war das Wiedererkennen jeden Tag stärker. Sie litten. In jeder Faser meines Körpers spürte ich ihr nagendes Leiden, jene starre Folter auf dem Grund des Wasserbeckens. Sie suchten nach etwas, wie etwa nach einer dereinst ausgelöschten Freiheit einer fernen Zeit, in der diese Welt die der Axolotl gewesen war. Unmöglich, dass jener Schrecken, der aus der aufgezwungenen Unbeweglichkeit ihrer steinernen Gesichter sprach, nicht eine schmerzhafte Botschaft in sich trug, die Beweis für ihre ewige Verdammnis zum Vegetieren in dieser flüssigen Hölle war. Vergebens versuchte ich mich zu überzeugen, dass es meine eigene Empfindsamkeit war, die mir ein nicht-existentes Bewusstsein vorgaukelte. Sie und ich, wir wussten Bescheid und darum war es auch nicht seltsam, dass es geschah. Das Gesicht fest an die Scheibe gepresst versuchte ich einmal mehr, das Geheimnis jener Goldaugen ohne Iris und Pupille zu ergründen. Von ganz Nahem schaute ich in das unbewegte Gesicht eines Axolotl direkt auf der anderen Seite des Glases. Ohne Übergang, ohne Überraschung sah ich mein eigenes Gesicht; statt des Axolotl mein Gesicht – draußen vor dem Aquarium. Als es sich entfernte, begriff ich.
Nur eines war seltsam: Weiterzudenken wie bisher, zu wissen. Dies zu begreifen war wie der Moment, in dem ein lebendig Begrabener sein Schicksal erkennt. Draußen kehrte mein Gesicht zurück, die Lippen von der Anstrengung, die Axolotl zu verstehen, aufeinander gepresst. Ich war ein Axolotl und in eben jenem Augenblick begriff ich, dass ein Verständnis unmöglich war. Er stand außerhalb des Aquariums, sein Denken war Denken außerhalb des Aquariums. Ihn kennend, den, der er war, war ich ein Axolotl in meiner Axolotl-Welt. Das Grauen, ich erkannte es sofort, erwachte in mir, als ich mich als Gefangener im Körper eines Axolotl begriff, in ihn hineinversetzt, mit meinem menschlichen Geist lebendig begraben in ihm, dazu verdammt, als bewusstes Lebewesen unter fühllosen Kreaturen zu hausen. Es verging in dem Moment, als ein Beinchen über mein Gesicht strich, als ich fast ohne mich zu bewegen, einen Axolotl an meiner Seite erkannte, der mich ansah und wusste, dass auch er es wusste, ohne dass eine Kommunikation möglich war aber dennoch klar und deutlich. Vielleicht war ich auch in ihm, oder wir alle dachten wie Menschen, unfähig uns auszudrücken, beschränkt auf den goldenen Glanz unserer Augen, die jenen Menschen mit seinem an die Scheibe gedrückten Gesicht betrachteten.
Er kam oft zurück, aber jetzt kaum noch. Es vergehen Wochen, ohne dass er sich über das Becken beugt. Gestern sah ich ihn, er schaute mich lange an und ging dann abrupt. Es schien mir, er interessiere sich nicht wirklich für uns, sondern folge nur einer Gewohnheit. Da ich nichts anderes tue als denken, denke ich viel an ihn. In meiner Vorstellung hatten wir zu Beginn noch eine Verbindung, dass ihn jenes Geheimnis, das uns verband, mehr umtrieb denn je, aber die Brücke zwischen ihm und mir ist gebrochen, weil das Objekt seiner einstigen Besessenheit nun ein Axolotl ist, seinem menschlichen Leben fremd. Zu Beginn, glaube ich, war ich noch fähig, in gewisser Weise, in sehr gewisser Weise, zu ihm zurückzukehren, sein Interesse, uns besser kennen zu lernen, wachzuhalten. Jetzt bin ich wirklich ein Axolotl und wenn meine Gedanken menschlich sind, dann weil jeder Axolotl im Inneren seiner rosafarbenen Gestalt denkt, wie ein Mensch. Ich denke, ich kommte ihm all dies in den ersten Tagen vermitteln, als ich noch er war. In dieser endgültigen Einsamkeit, in der er nicht mehr wiederkehrt, tröste ich mich mit dem Gedanken, dass er vielleicht einst über uns schreiben wird, und, im Glauben, sich eine Geschichte auszudenken, alles über die Axolototl zu Papier bringen wird.
ENDE
Da sind noch Fehler um Hoperigkeiten drin, die ich bei Gelegenheit korrigieren werde. Anmerkungen sind willkommen.
Das Original findet sich hier: https://www.ingenieria.unam.mx/dcsyhfi/material_didactico/Literatura_Hispanoamericana_Contemporanea/Autores_C/CORTAZAR/AxO.pdf
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